Ist "Herbsttag" ein verfremdetes Sonett?



Rainer Maria Rilkes "Herbsttag" - Original und "Fälschungen"

von Rolf-Peter Wille


      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.

Wir genießen den Reiz ausgefallener, ausdrucksreicher Sprache, wenn wir sie mit einer alltäglichen vergleichen. Auffälliger wirkt die interessante Frau am Arm eines gewöhnlichen Gatten - oder umgekehrt. Behaupten wir, es gäbe eine "Fälschung" der ersten Strophe und behaupten wir, sie wäre eine regelmäßige Sonettstrophe, ein Quartett im Blockreim:

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
      und lasse auf den Feldern und den Fluren
      des Herbstes ungestüme Winde los.

Langweilig, gar nicht ungestüm, leiert nun die vierte Zeile ihre fünf gleichmäßigen Akzente auf "Herb-", "un-", "stü-", "Win-" und "los", der Jambus latscht dahin auf platten Füßen, und vernichtend infiziert dies Leiern die erste Zeile der zweiten Strophe:

      des Hérbstes úngestúeme Wínde lós.

      Befíehl den létzten Frúechten vóll zu seín.

Noch öder liest sich die Strophe, wenn wir die "herrliche" Anrede vermeiden:

      Bald ist es Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Schon liegt ein Schatten auf den Sonnenuhren
      und auf den Feldern und auf unsern Fluren
      sind nun des Herbstes wilde Winde los.

Zum Scherz noch eine Verkürzung:

      Der Sommer war sehr groß.
      Leg, Herr, auf Sonnenuhren
      den Schatten. Auf den Fluren
      laß nun die Winde los!

Diese verkürzte Version allerdings wirkt dramatischer wiederum, konzentrierter, und besonders der Zeilensprung schafft Bewegung. Verkürzung erregt auch in Rilkes Originalstrophe Unruhe:

      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.

 "Fluren", ein möglicher Endreim auf "-uhren", ist vorangestellt; zwei Verszeilen mit zwei Reimwörtern ("Fluren", "los") sind zu einer einzigen Zeile zusammengerafft:

      und auf den Fluren 
                                         laß die Winde los. 

Vernichtend klänge die alltäglichere Wortstellung:

      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren.
      und lásse lós die Wínde auf den Flúren.

oder gar:

      Herr: es ist es Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Laß deine Winde auf den Fluren los.

Man müsste sich hier, auf den Fluren, die Nase zuhalten. Nur zwei starke Betonungen gibt’s bei Rilke. Im "accelerando" bläst der Wind auf "Flu-" und "Win-"  (nicht auf "auf" oder auf’s Reimwort "los"!)

       --------------->        --------->
      und auf den Flúren laß die Wínde los 

Langsam, hingegen, und lakonisch beginnt das Ende des Sommers in der ersten Zeile - ebenmäßig jedoch nicht.

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Zwar gibt es nur einfache, "archaische" und, bis auf "Sommer", nur einsilbige Wörter; als ein Gebetsanfang aber klingt die Zeile wie eine Aufforderung. "Vater unser, der Du bist im Himmel" klingt regelmäßig, leiernd fast, im Vergleich:

      ter
      únser,
      dér Du
      bíst im
      Hímmel

      Hérr:
      es ist Zeít.
      Der Sómmer war sehr gróß.
      Leg deinen Schátten auf die Sónnenuhren
            und auf den Flúren laß die Wínde los.

Dem "archaischen", gefassten, fast schon schroffen "Herr" entsprießen die sich stetig verlängernden Ausrufe; sich allmählich vertiefend auch vom hellen "e" und "ei" über die "sommerlichen" "o"s, das "schattige "a", zu den dunklen "u"-Lauten, die übrigens in der letzten Zeile des Gedichtes "unruhig" fortwandern. Großartig, wie sich das "Fluren" gegen die "-uhren" stemmt und einen dramatischen Richtungswechsel erzwingt:

      ---> Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
                                                                            |                        
                                    <--- los Winde die laß Fluren den auf und <--- zurück

Harmloser klänge es in der konventionellen Wortstellung "und láß die Wínde auf den Flúren los". Die "Sonnenuhren" sind nicht nur "Symbol der Vergänglichkeit" sondern klanglicher "Januskopf": Das sonnige "o" wendet sich zum dustren "u".

Doch zurück zum herben, herrischen "Herr", das hier kein lyrisch lindernder Auftakt "Oh" einleitet:

      Oh Herr, der Sommer sagt adieu.
      Sanft fall’n die Blätter, peu à peu

"Herr: es ist Zeit" klingt recht unsentimental. Herr: es ist Zeit. "Wir sind bereit", möchte man fast ergänzen. Den Herbst aufzuschieben, erbitten wir nicht. Rilke vermeidet das Wort "Herbst" - der "Sommer war". Weder die Winterfee ersehnen wir noch den Weihnachtsmann. Wir sind gefasst, freuen uns sogar auf die Winde, die uns selbst verwehen werden.

Seltsam, beinahe banal klingt "Der Sommer war sehr groß". Aus Angst vor einem "great summer" traue ich mich nicht, eine englische Übersetzung zu suchen ("Come on, man: summer was great!"). Ein Deutschlehrer würde uns das "groß" groß anstreichen, wenn wir im Aufsatz vom großen Sommer faselten. Doch bei Rilke erzielt gerade dies gewöhnlichste Wort seine markanteste Wirkung.
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      Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
      gib ihnen noch zwei südlichere Tage
      dränge sie zur Vollendung hin und jage
      die letzte Süße in den schweren Wein.

Wie anders nun die zweite, "südlichere" Strophe mit ihrer Häufung von Betonungen! "Ä"- und "ü"-Laute haben die einfachen Vokale verdrängt und statt der archaisch einsilbigen Wörter singen hier recht melodiöse, drei-, ja viersilbige sogar, wie "südlichere". Fast möchte ich diese versüßten Zeilen mit "südlichem" Akzent und gedehnten Vokalen deklamieren, was ihnen eine kitschige Note gäbe:

      Gieb iehnen noch zwei sühdlichärä Tahgä

Es herrscht nur der Imperativ in dieser Strophe. Aber so recht "herrisch", wie die "männliche" Aufforderung der ersten Strophe, klingt es nun nicht - eher wie eine Bitte. "Gib" und besonders das "dränge", das hier wieder den jambischen Auftakt verdrängt, stauen den Rhythmus und klingen bei einem kitschigen Vortrag sogar flehentlich. Wettgemacht wird die Stauung aber vom sehr ungewöhnlichen "jage", das einen Zeilensprung erzwingt und nach vorn jagt. Der "Herr" ist voller Energie. Er lässt die Winde los und jagt die Süße in den Wein. "Befehlen", "Drängen" und "Jagen" schaffen die Beziehung zur ersten Strophe und helfen uns, die schwere Strophe zu verdauen.

Ein Deutschlehrer oder ein Stilexperte würde Rilke (wenn er nicht Rilke wäre) vielleicht die verletzende Wiederholung von "letzte" in der ersten und letzten Zeile ankreiden. Es ist ja das Letzte, wenn einem kein neuer Begriff einfällt und man den Elefanten nicht im nächsten Satz "der Dickhäuter" und im dritten natürlich "das Rüsseltier" nennt. "Letzte" bezieht sich aber hier auf Vollendung. Die Früchte werden zur Vollendung gedrängt und diese zweite Strophe ist eine vollendete Sonettstrophe.

Haben wir die verkürzte erste Strophe mit einer prototypischen Sonettstrophe verglichen, so ließe sich die zweite wohl beschneiden und mit einiger Verrenkung ins rhythmische Korsett der ersten zwängen; etwa so:

      Auf: mach sie voll. Laß schwer die Trauben sein.
      Weck deines Weines südlichere Süchte
      und in die Früchte jag die Süße rein.

So klängen die Verse kompakter und dramatischer, aber der Kontrast zur ersten Strophe fehlte. Man kann es leicht nachempfinden, wenn man die beiden Strophen rasch hintereinander liest:

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.

      Auf: mach sie voll. Laß schwer die Trauben sein.
      Weck deines Weines südlichere Süchte
      und in die Früchte jag die Süße rein.

Die zweite Strophe wäre hier rhythmische Parodie der ersten. Ironisch sicher, aber die "dialektische" Entwicklung, die Antithese zur ersten Strophe, fehlte.
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Auch in der ersten Strophe, übrigens, erscheint ein gleiches Wort zweimal: "auf" ("auf die Sonnenuhren", "auf den Fluren"). - ein Aufbruch. In der langen, langen letzten Strophe gibt es "lange" zweimal ("lange bleiben", "lange Briefe"). Hier ist sie:

      Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
      Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
      wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
      und wird in den Alleen hin und her
      unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Als "gefälschter" Vierzeiler könnte sie so aussehen:

      Manch armer Mensch baut sich kein Häuschen mehr.
      Er ist allein und wird es lange bleiben.
      Er wacht und liest, will lange Briefe schreiben
      und wandert in Alleen hin und her.

Das wäre ein Bericht in drei Sätzen. Auch hier wäre "lange" zweimal erwähnt - doch noch lange nicht gestaltet. Stets gleiche Zäsuren setzten die Zeilen brav voneinander ab. Nicht nur länger hingegen ist die dritte Rilke Strophe sondern auch rhetorisch verfremdet. Verschoben scheint der Blickwinkel. Dies ist keine Aufforderung, keine Bitte an den Herrn mehr sondern ein Bedauern: "Ach, wer jetzt kein Haus hat - ach, wer jetzt allein ist!". Ein anderer "Herbsttag", der von Hebbel, beginnt mit dem bewundernden Ausruf:

      Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!

Bei Rilke aber ist es keine Bewunderung. Dem zweimaligen "wer" folgt in den Nebensätzen dreimal ein "wird", ein prophetisches Futur ("da wird sein Heulen und Zähneklappern"). Vergessen sind die vollendeten "Südfrüchte". Warum hilft uns nicht der süße Wein in dieser Strophe? Etwa wie in Storms "Oktoberlied":

      Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
      Schenk ein den Wein, den holden!
      Wir wollen uns den grauen Tag
     Vergolden, ja vergolden!

Hätte nicht Rilke lieber doch so schreiben sollen:

      Wer jetzt ein Haus hat, darf nicht traurig sein.
      Wer jetzt allein ist, wird’s nicht lange bleiben.
      Er feiert Feste, lädt sich Freunde ein
      und wenn vorm Fenster wild die Blätter treiben,
      erblüht in seiner Kehle mild der Wein.

Ein gemütliches Bild - aber es berührte nicht. Fremd berührt uns bei Rilke das letzte Bild der Unruhe - das Hin- und Herwandern in den (unendlich langen) Alleen und das (geisterhafte) Treiben der Blätter. Fremd berührt uns das Futur. Eine Zäsur wird deutlich nach der zweiten Strohe; die dritte erscheint abgegrenzt. In einem gelungenen Sonett erzielen die beiden abschließenden Terzette oft so eine befremdende Verrückung des Wesens, und man könnte diese dritte Rilkestrophe nicht nur als verlängertes Quartett sondern auch als Verkürzung zweier Terzette begreifen. Ein regelmäßiges Sonett könnte so enden:

      Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
      Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
      wird wachen, lesen, wenn die Stunden leer.

      Vereinsamt wird er lange Briefe schreiben
      und wird in den Alleen hin und her
      unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Dem Herrn sei gedankt, dass Rilke diese Zeilen nicht in zwei Terzette unterteilt, sondern dass er fünf Zeilen und nur zwei Sätze geschrieben. Die sonettartig verrückende Wirkung ist durch die Verfremdung der Form sogar noch verstärkt. In langer Allee wandert der zweite Satz durch vier Zeilen, sehr unruhig in der Tat, da sich sein Tempo bisweilen verlangsamt, nämlich bei "wandern, lesen, lange Briefe schreiben", dann wieder zieht es nach vorn: "und wird in den Alleen hin und her". So weht es hin und her wie ein Blatt im Winde. Das unruhigste Wort aber ist "unruhig". Wir möchten die erste Silbe betonen - "ún-ruhig", vielleicht sogar die letzten beiden Silben zusammenziehen - "únruich wándern" so dass ein Trochäus herauskäme. Der vorherrschende Jambus jedoch will eine gegennatürliche Betonung der zweiten Silbe erzwingen - "un-rú-hig" - und so schwanken wir beim Lesen, unruhig, zwischen den Möglichkeiten.

Der dunkle Klang des "unruhig" knüpft an die "-uhren" und "Fluren" der ersten Strophe an. Dazwischen sind betonte "u"-Laute gänzlich vermieden. "Unruhig" ist in dieser letzten Strophe bereits das ausdrucksvollste Attribut. Gefühlsreiche Partizipien - "vereinsamt wird der wachen", oder "erschauernd wird der lesen", etc. - hat Rilke vermieden. "Wachen", "lesen", "schreiben", "wandern" sind neutrale Verben, die sich auf jede Jahreszeit beziehen. Die beunruhigende Wirkung ist allein durch Rhythmus und Tempo erzielt:

      und wird in den Alen hín und hér
      únruhig wándern, wenn die Bláetter treiben.

Hin- und hergeweht ist die prosaische Wortstellung:

      der wird [1] |,  |wenn die Blätter treiben [6]|,
      |in den Alleen [2]|  | unruhig [4]|  | hin und her [3]|  | wandern [5]

Auch die drei ungleichen Strophen Rilkes wandern hin und her. Die Entwicklung von der ersten zur dritten ist keineswegs geradlinig. Das Hin- und Hertreiben des Wandernden und der Blätter resultiert nicht aus den reifen Früchten der zweiten Strophe sondern aus den losgelassenen Winden der ersten. Wie manch Finale einer Beethoven Sonate, verschiebt die dritte Strophe die Themen der ersten ins wesenlose Wehen, oder beinahe geisterhaft Getriebene: es ist Zeit -> keine Zeit, um sich noch ein Haus zu bauen; leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren -> lange allein sein und wachen; auf den Fluren laß die Winde los -> unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

                                       Der Herr lässt die Winde los

      befiehlt den Früchten
                                               
                                                                                  Mensch
                                                                                         und Blätter
                                                                                                      treiben
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Abschließend - aber es gibt nichts Abschließendes im Herbsttag - noch einmal das Original an der Seite zweier "Fälschungen":

Erste "Fälschung": Sonett im "Adagio" (zweite Strophe unverändert):

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
      und lasse auf den Feldern und den Fluren
      des Herbstes ungestüme Winde los.

      Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
      gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
      dränge sie zur Vollendung hin und jage
      die letzte Süße in den schweren Wein.

      Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
      Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
      wird wachen, lesen, wenn die Stunden leer.

      Vereinsamt wird er lange Briefe schreiben
      und wird in den Alleen hin und her
      unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


Zweite Fälschung: "vivace" - zweite und dritte Strophe parodieren die erste unveränderte:

      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.

      Auf: mach sie voll. Laß schwer die Trauben sein.
      Weck deines Weines südlichere Süchte
      und in die Früchte jag die Süße rein.

      Weh! Hab kein Haus. Ich bau mir keines mehr,
      werd’ lange wandern, wenn die Winde wehen,
      und in Alleen irr’ ich hin und her.


Das Original:


                             Herbsttag


      Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
      Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
      und auf den Fluren laß die Winde los.

      Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
      gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
      dränge sie zur Vollendung hin und jage
      die letzte Süße in den schweren Wein.

      Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
      Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
      wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
      und wird in den Alleen hin und her
      unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
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English version

"Die große Fracht" (Ingeborg Bachmann im Vergleich mit Rilkes "Herbsttag")
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